Die eine Wolke sah aus wie ein Frauengesicht. Er blickte hinauf.
Stand still und blickte hinauf. Er hätte sich auch hinlegen können. Das hätte den gleichen Effekt für seine Augen gehabt. Sie wären nach oben gerichtet. Aber er hatte sich für die etwas schwierigere Methode entschieden. Für die Methode, die wesentlich mehr Konzentration erforderte. Auch mehr Kraft.
Aber er sagte sich, dass das der bessere Weg sei, um zu erreichen was er sich vorgenommen hatte. Schließlich hatten alle im Dorf gemeint, er wäre verrückt. Aber er hatte so eine Bezeichnung noch nie als etwas negatives oder eine Beschimpfung gesehen. Verrückt ist, das war seine Definition dieses Wortes, verrückt ist jemand, den Gott an eine andere Stelle gestellt hat als er vorher war. Wenn jemand einen Sessel verrückt, ist das auch für niemanden etwas besonderes.
Er konnte nicht genau sagen, wie lange er schon so dastand. Wenn man so lange immer die gleiche Tätigkeit ausübt, wird die Zeit zu etwas relativem. Eine Sekunde hat keine Bedeutung. Eine Minute ist ein abstrakter Begriff. Und das eigenartige daran war, die Minute war nicht etwa deswegen zu einem abstrakten Gegenstand geworden, weil so viele immergleiche an einem vorbeizogen. Nein, es war genau umgekehrt. Sobald er an Zeit dachte und sich überlegte wielange zum Beispiel das Frauengesicht benötigen würde, sich in einen, sagen wir einmal... Elefantenkopf zu verwandeln, sobald ihm also Zeit in den Sinn kam, war eine Minute so übervoll angefüllt mit Ereignissen, dass sie nicht und nicht vergehen wollte. Er stand eine Ewigkeit da, die gespickt war mit kleinen Ewigkeiten. Unterewigkeiten, wenn man so will. Ewigkeiten die parallel verliefen.
Er machte die Erfahrung, dass wenn er die Sekunden zählte, nicht nur am Himmel enorm viel passierte. Auch in ihm ging eine Unmenge vor sich. Er spürte seine Muskeln, sein Kreuz und vor allem sein Nacken schmerzte ihn zusehends. Das passierte in seiner Wahrnehmung parallel. Das war eine interessante Entdeckung. Und sie verblüffte ihn ein wenig. Es war das erste mal, dass er sich auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrierte. Und das ging sogar ganz automatisch. Er brauchte nichts dazutun. Es passierte während er erstaunt beobachtete, wie sich die Form der sich über ihm weiß auftürmenden Wolken veränderte. Unmerklich eigentlich. Es war mehr wie ein stetiges hineinwachsen in eine ihm bekannte Form, die aber nur erreicht wurde, um weiterzuwachsen und langsam, auch wieder fast unmerklich, wieder in etwas neues überzugehen.
Es war gleichzeitig auch die enorme Mächtigkeit der Wolkentürme über ihm und das sich ständig ändernde Licht. Aber das war ihm noch nicht ganz bewusst geworden. Das nahm er nur wahr, wie man den Geruch einer Person wahrnimmt, ohne ihn zu riechen. Es ist mehr etwas, was Gefühl auslöst, ohne als Auslöser in Erscheinung zu treten.
Und neben diesen Beobachtungen passierte eben auch noch anderes. Gleichzeitig passierte etwas in ihm, oder mit ihm. Eben ohne sein zutun.
Er spürte den kleinen Stein auf dem er anscheinen stand. Ein kleiner Kiesel, oder ein Stück Holz oder sonst eine Unebenheit. Winzig. Beim hinstellen nicht wahrgenommen, entpuppte sich das kleine etwas unter seiner Schuhsole als Störenfried. Als etwas unangenehmes. Gleichzeitig fühlte er das Gewicht seines Kopfes auf seinem Nacken lasten. Eigentlich ruhte sein Kopf auf dem zusammengedrückten Wulst von Halsfleisch, Kragen seiner Jacke und Haaren.
Er schaffte es die Muskeln anzuspannen, besser: zu bemerken, die er dazu benötigte, den Kopf zu bewegen. Er bewegte seinen Kopf nicht. Keinen Millimeter. Aber er konnte so tun als ob und er spürte genau, dass da im Hals Muskeln nur darauf warteten, endlich den Befehl ausführen zu können, der sozusagen in der Luft lag. Er spürte auch wie seine Hände dicker wurden. Sie hingen links und rechts an seinem Körper herab und hatten dort nichts zu tun, als dem Blut eine Möglichkeit zu geben, sich in ihnen zu sammeln. Er nahm das als dieses nicht zu beschreibende Gefühl wahr, das von einem Finger ausgeht, der ewig nicht bewegt wurde, und die Qual einer winzigen Bewegung als leises rieseln an seiner Umgebung auslässt. Wie stark dieser fingerliche Gefühlsausbruch ist, ist einzig und allein davon abhängig, wie sehr man daran denkt.
Er war woanders. Er war der verrückte. Und von dieser neuen Position aus blickte er gleichzeitig auf sich und die Wolken. Gleichzeitig nach innen und nach außen.
Er sah die Sachen gleichzeitig und gleichzeitig ganz.
Und auf einmal, und jetzt stutzte er, machte sich da noch eine dritte Welt auf. Das brachte ihn geradezu ein wenig aus dem Gleichgewicht. Aber er zwang sich, weiterhin ganz ruhig zu stehen. Die Wolken zu beobachten. Den Stein unter seiner Schuhsohle zu ignorieren. Er zuckte nur ganz leicht mit seinem rechten Zeigefinger, was sofort zu einem rieseln durch seine ganze Hand und eines Teiles seines Unterarmes führte. Gelassen nahm er es wahr, denn die Entdeckung der dritten Welt machte ihn fast ein wenig übermütig. Er hatte sich auf die Wiese am Hügel über seinem Dorf gestellt und hatte angefangen auf den Himmel zu starren, weil er davon überzeugt war, dass, wenn er nur lange genug auf einen Punkt im Blau blicken würde, er dann hinter den Himmel schauen könnte. Das war führ ihn eigentlich keine Frage nach dem ob, sondern nur eine des Tuns. Aber das es so kommen würde, hat ihn überrascht.
Die dritte Welt, die er jetzt erkannte waren seine Gedanken. Er erlebte nicht nur das Außen, die Wolken, und das Innen, seinen Körper, sonder auch noch das Dahinter, seine Gedanken.
Als er diesen Gedanken fertiggedacht hatte, schüttelte er sich, drehte seinen Kopf langsam nach allen Richtungen, rieb seinen schmerzenden Nacken, drehte sich um und ging langsam über den Hügel in sein Dorf zurück.